Klangwerkstatt Berlin

Festival für Neue Musik


1. bis 18. November 2018

Samstag 10.11.

Extremitäten

15.00 Uhr Kunstquartier Bethanien

Landesjugendensemble Neue Musik Berlin

  • Gerhard Scherer Tonraum anGrenzen 1 (2017/18 UA) für Kammerensemble
  • Sidney Corbett Red Traces: Lines for Malte Spohr III (2018 UA) für Ensemble Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin
  • Landesjugendensemble Neue Musik Berlin Extremitäten (2018 UA) Improvisation zum Thema Grenze
  • Noemi Liba Friedman Barak. Fragments of Lightning and Storm (2017 UA) für Flötenquintett, Streichquintett, präpariertes Klavier und Percussion
  • Lily Tait sometimes the yoke is heavy (2017 UA) für Sopran, Trompete, Posaune, Perkussion und Violine
  • Jobst Liebrecht salivation army 19-17 (2016) für Sopran und Ensemble

Landesjugendensemble Neue Musik Berlin Ariadna Posadas, Maxim Reitter, Paula Siebert, Pedro Mauricio Sotelo-Romero, Charlotte Schneider, Charlotte Templin, Rebekka Wagner - Violine | Fabian Blum, Henriette Brunner, Ramon Lahmann - Viola | Charline Gehrke, Viet Anh Tran, Timnah Weckner - Violoncello | Luca Staffiere - Kontrabass | Noah Damm, Zhifeng Hu - Klavier | Noga Baake, Maxine Bell - Akkordeon | Stefan Degel - E-Gitarre/Banjo | Cosmas Anapliotis, Elisa Franke, Larisa Janko, Jonas Kämper, Chris Rützel, Malin Sieberns - Flöte | Johanna Hoffmann, Sooyeon Park - Oboe | Antoine Boecker - Klarinette | Chen Cheng, Sebastian Lange - Saxophon | Kaja Armbruster - Fagott | Luton - Horn | Valentin Fischer - Trompete | Gustav Baier - Posaune | Johann Fitzenreiter, Sebastian Mai, Cedric Veit, Anton Thelemann, Jonas Thurow, Johann Zimmermann - Schlagwerk/Pauke | Gerhard Scherer, Jobst Liebrecht – Leitung

Landesjugendensemble Neue Musik Berlin, Photo: André Fischer
Landesjugendensemble Neue Musik Berlin, Photo: André Fischer

Obertonreihen schaffen eine Aura, bilden ein Hörfeld um Zentraltöne: das ist die eine Ebene von Tonraum an Grenzen 1. In dieser geht es auch immer um Rhythmus, auch wenn er fehlt. Überraschend stößt diese Ebene auf Linien, klar begrenzt oder explosiv verdichtet, an anderer Stelle aber auch voller ausufernder Expression. Ja, ich mag expressive 12-Ton-Melodien. Für mich leben wir in einer wunderbaren Zeit des Auslebens der Möglichkeiten, die uns große Komponist/innen – früher oft zwangsläufig von üblen ideologischen Grabenkämpfen begleitet – aufgezeigt haben. Aus diesem riesigen, mir nur zum Teil zugänglichen Bassin schöpfe ich, versuche in meiner Musik mehr zu fühlen als zu formen, zu gestalten statt zu verwalten, zu akkumulieren ohne zu negieren. Aber Fragen sollen bleiben, offen soll das Feld letztlich für den Rezipienten sein, nicht zu abgegrenzt und umzäunt. Bitte keine Glaubenskriege mehr. (Gerhard Scherer)

Anfang 2006 traf ich Gerhard Scherer im Bahnhof Zoo, er fuhr die Rolltreppe hoch, ich runter. Er fragte gleich, ob ich Lust hätte, für die Klangwerkstatt, welche später im Jahr stattfinden würde, ein Stück zu schreiben für sein Orchester „Ensemble Experimente“ Berlin. Und ich sagte begeistert zu. Gerhard kannte ich schon und ich schätze ihn sehr, es war mir eine Freude, so eine Anfrage zu bekommen. Also als ich unten war, wusste ich, dass ich eine schöne Aufgabe vor mir hatte. Allerdings wusste ich überhaupt nicht, was ich schreiben sollte. Kurz darauf begegnete ich einem Bild des Zeichners Malte Spohr. Ich kannte seine Arbeit flüchtig und war fasziniert von der Akribie und Strenge seiner Kunst, dachte, vielleicht ist das irgendwie ein Hinweis und machte mich sogleich auf den Weg zu seinem Galeristen, habe einige Bilder mir genauer angesehen und schrieb dem Künstler über seinen Galeristen, ganz formell, mit der Frage ob ich ein Werk auf seine Kunst gemünzt schreiben dürfe. Die Antwort war etwas zögerlich: „Na ja, was haben Sie da vor, was wollen Sie genau machen?“ Er fragte nach Aufnahmen meiner Musik und schließlich willigte er ein. Bei der UA im Ballhaus Naunynstraße lernten wir uns kennen. Daraus ist eine tiefe und innige Freundschaft entstanden, und es sind einige weitere Arbeiten hinzu gekommen, die mit seiner Kunst im Zusammenhang stehen, u.a. „Lines for Malte Spohr II: Überzeichnung“, ein Werk, das im vergangenen Sommer in Daegu, Südkorea uraufgeführt wurde, eine wachsende Reihe von kleinen Stücken, „Himmelskörper“ für Violine und Akkordeon, Teile daraus wurden im Februar dieses Jahres bei einer großen Retrospektive seiner Kunst in Kaiserslautern gespielt, und nun das vorliegende Werk, „Red Traces“. Malte ist Zeichner, er legt großen Wert auf diese Bezeichnung. Seine Kunst besteht aus horizontalen Linien, gezeichnet mit Bleistift und Lineal auf Papier. Es sind Ausschnitte aus Beobachtungen, die er macht, zur Refraktion des Lichtes, zur Beschaffenheit des Wassers, unter anderem. Die Grundlagen bilden Fotografien, die er entwickelt und stark vergrößert, um innewohnende Muster freizulegen, die er auf verschiedene Weisen als Zeichnungen zu Papier bringt. In letzter Zeit sind Farben -Blau und eben ein besonderes Rot- in seinen sonst in verschiedenen Schattierungen von Grau gehaltenen Bildern hinzugekommen. Diese Bilder haben mich besonders angezogen und dieses Werk ist ein Ergebnis meiner Betrachtungen dieser neuen Bilder. Es ist mir eine besondere Freude, zwölf Jahre nach meinem ersten Werk für die Klangwerkstatt, erneut mit Gerhard Scherer und das Landesjugendensemble Neue Musik Berlin zu arbeiten und ein neues Werk in diesem Rahmen zu präsentieren. (Sidney Corbett)

Zu einer Improvisation lässt sich vor ihrer Entstehung noch nicht viel sagen. Aber der Prozess kann beschrieben werden und die Funktion: Zu einer Grundidee, einem Thema oder einem Stichwort (in diesem Jahr Extremitäten / Grenzen) entwickeln die Musiker/innen im Verlauf der Probenphase einen individuellen Beitrag, der gleichzeitig seine Existenz im Ensembleganzen finden muss bzw. dieses natürlich auch verändert. Mit dieser Übung geht ein großes Stück Selbstreflexion, Verantwortung für ein fragiles gemeinsames künstlerisches Ergebnis und eine sensible Balance aus Exponieren und Eingliedern einher. Oft nehmen die jungen Musiker auch ganz pragmatisch-demokratisch die Entscheidung über Grundkonzept oder Verlauf der Improvisation wahr. (Gerhard Scherer)

Barak ist das hebräische Wort für Blitz. Der Verlauf eines Blitzes ist sowohl vorhersagbar als auch chaotisch. „Barak“ stellt eine Untersuchung des Blitzes als fraktales Phänomen dar, als eine physikalische und spirituelle Transformation. Die Komposition „Fragments of Lightning and Storm“ schöpft aus verschiedenen Quellen: wissenschaftlichen Untersuchungen zu Blitzen, aber auch jüdischer Tradition und kabbalistischer Zahlenmystik. So wird eine Klangkarte entworfen, auf der sich die Annäherung, die Gegenwart und das Verschwinden eines blitzegeladenen Gewitters vollzieht, melodisch und perkussiv. „Barak“ ist das Preislied eines Sturms, der die bleierne Monotonie der Alltagsroutinen hinwegzufegen vermag und uns daran erinnert, dass Natur sich nie wird zähmen lassen. (Noemi Liba Friedman)

sometimes the yoke is heavy basiert auf einem Text von Rowan McNaught, „Yoking the Ox“, und ist für Quintett geschrieben. McNaughts Essay stellt ein befremdliches metaphorisches Verhältnis her zwischen dem Ochsen unter dem Joch der Landwirtschaft und der kreativen Kraft der Künste unter dem Joch des Kapitalismus. Die Komposition erforscht die Beziehungen von Abhängigkeit und Ermächtigung innerhalb einer musikalischen Darbietung. (Lily Tait)

Mein Kammermusikwerk salivation army 19-17 könnte man als abstraktes Antikriegsstück bezeichnen. Der Titel beinhaltet sowohl ein Wortspiel (salvation army = Heilsarmee, salivation = Speichelflüssigkeit) als auch die Zahlen 19-17, bei denen man an das Jahresdatum im 1. Weltkrieg denken kann oder an eine Art Militärabzeichen oder auch einfach nur an die mathematischen Einheiten 19 und 17. Das Material dieses Stückes basiert auf einem dekonstruierten Gedicht von Emily Dickinson und auf einer den Heilsarmeehymnen nachempfundenen ebenfalls dekonstruierten Melodie. Außerdem gibt es fremdes Material aus Folk und Blues, das in eine Art simultane Fläche eingebracht wird, die maßgeblich von Banjo, präpariertem Klavier und Percussion geprägt ist. Auch der Gesangspart für eine Jazzsängerin oder Sopranistin sowie der Saxophonpart sind virtuos angelegt und stellen, wie das gesamte Stück, eine Art gestückelte Extremsituation dar. (Jobst Liebrecht)