Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Sonntag 6.11., 11.00 Uhr – Videodokumentation

Alles dreht sich

Freie Jugendorchesterschule Berlin & Gäste

© André Fischer
© André Fischer

Programm

  • Antoni Leon Pocher
    RevolteUA(2022)
    für OrchesterAuftragswerk der Jungen Staatsoper Berlin 2021
    1. Preisträger des Landeswettbewerbes Jugend musiziert Berlin 2022
  • Noah Raab
    TagesanbruchUA(2022)
    für Orchester1. Preisträger des Landeswettbewerbes Jugend musiziert Berlin 2022
  • Sören Sieg
    aus: Vitambo vya moyo. Afrikanische Suite Nr. 4(2008)
    für Blockflötenquintett
    Kinokero (Die Gazelle)
    Kinyongo (Wehmut)
  • Noah Raab
    Capriccio VivaceUA(2022)
    für Gitarrenensemble
  • Sado Kim (Arr.)
    Feierlicher koreanischer Tanz(2022)
    für Orchester
  • Sado Kim
    She’s Laughing(2017)
    für Orchester
  • Rainer Feldmann
    검은 풀 (여순 사건을 기억하며) Schwarzes Gras (Erinnerung an den Vorfall in Yeosu)DEA(2022)
    für Orchester und Gitarre soloSolist: Rainer Feldmann
  • Jobst Liebrecht
    Sinfonie Nr. 5 - „Wien“ auf Gedichte von Ernst JandlUA(2022)
    für Bariton und OrchesterSolist: Simon Wallfisch

Jugendsinfonieorchester und Nachwuchsorchester der Freien Jugendorchesterschule Berlin und Gäste

Leitung: Jobst Liebrecht

Jusinn Orchestra aus Yeosu (Republik Korea)

Leitung: Sado Kim

Blockflötenensemble der Freien Jugendorchesterschule Berlin

Leitung: Martina Feldmann

Gitarrenensemble der Freien Jugendorchesterschule Berlin

Leitung: Rainer Feldmann


Bei den Orchestern und Ensembles der Freien Jugendorchesterschule Berlin dreht sich in diesem Jahr alles um die 5. Sinfonie von Jobst Liebrecht, die in großer Besetzung bei der diesjährigen Klangwerkstatt Berlin ihre Uraufführung durch die jungen Musiker:innen erleben wird. Zudem stehen gleich drei neue Werke jugendliche Nachwuchskomponisten auf dem Programm. Und zur großen Freude aller kann nach pandemiebedingter Pause in diesem Jahr die langjährige Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen aus Yeosu (Republik Korea) fortgesetzt werden. Das Jusinn Orchestra aus Yeosu unter der Leitung von Sado Kim ist zu Gast und bringt neben zwei koreanischen Stücken auch ein Werk von Rainer Feldmann mit, dass dieser im Auftrag des Orchesters geschrieben hat.

Den Auftakt machen zwei Orchesteruraufführungen von zwei Berliner Nachwuchskomponisten, die beide seit 2020 Kompositionsunterricht bei Jobst Liebrecht an der Freien Jugendorchesterschule Berlin erhalten. Beide haben in dem diesjährigen Landeswettbewerb „Jugend Musiziert“ im Bereich Komposition einen ersten Preis gewonnen.

Das Stück Revolte von Antoni Leon Pocher entstand im Sommer 2020 als Auftragswerk der Jungen Staatsoper Berlin des damals 14jährigen Komponisten für das Opernkinderorchester. Für das geplante Konzert sollte ein Bezug zu Mozart in dem Werk vorkommen. Dieser ist, unschwer zu erkennen, die zitierte Arie des Figaro Se vuol ballare, signor Contino. Deren aufrührerischer Impetus wird in Revolte jugendlich weitergetrieben. Durch die Corona-Pandemie konnte die Uraufführung zwei Jahre nicht stattfinden und musste letztendlich von der Staatsoper sogar abgesagt werden.

Über Tagesanbruch, das er als Schüler der 10. Klasse komponierte, schreibt Noah Raab: „Das Stück Tagesanbruch entstand am Anfang des Jahres 2020 und war das erste vollendete Stück, das ich für ein Orchester geschrieben habe. Es beschreibt den Verlauf der frühen Morgenstunden eines Tages musikalisch. Die Musik ist geprägt von der Stimmung des Erwachens, eines Sonnenaufgangs, aber auch das Vogelgezwitschers sowie das in die Gänge kommende Leben.“ (Noah Raab)

Mit den zwei Sätzen aus der Vitambo vya moyo. Afrikanischen Suite Nr. 4 für Blockflötenquintett von Sören Sieg (*1966) steht ein Stück voll Musizier- und Lebensfreude auf dem Programm. Der Komponist schreibt:

„Wer sich je Platten von Dumisani Maraire oder Abdullah Ibrahim angehört hat, der weiß, dass keine andere Musik so reines Glück zu vermitteln vermag wie die schwarzafrikanische. Dieses reine Glück ist auch das Thema dieser vierten afrikanischen Suite. Es ist die Eigenart dieser Musik, dass sie das Glücksgefühl sowohl beschreibt als auch lebendig macht. Und noch etwas ist eigenartig: das Glücksgefühl kann jederzeit in Trauer umschlagen … Diese Musik lebt von ihrer Einfachheit und Klarheit, von der absoluten Beschränkung auf die reine Dur-Tonleiter genauso wie von ihrer metrischen und rhythmischen Lebendigkeit und Unbezähmbarkeit. Diese Klarheit und Schlichtheit korrespondiert zu dem klaren und schlichten Klang der Blockflöte. Diese Suite ist in Hinblick auf ihre Dynamik, Entwicklung und Polyphonie sehr europäisch. Es ist genau betrachtet ein europäisches Stück über afrikanische Musik.“ (Sören Sieg)

Mit der Uraufführung von Capriccio Vivace steht ein zweites Stück des jugendlichen Komponisten Noah Raab auf dem Programm: „Das Stück Capriccio Vivace, also ein lebendiges Stück in freier Form, entstand im Dezember 2021 auf eine Anfrage meines Lehrers Prof. Rainer Feldmann hin. Geschrieben ist es für ein Gitarrenensemble und einen Bass. Stilistisch ist das Capriccio, genau wie seine Form auch, sehr frei. Es ist schwungvoll und sorglos sowie ein wenig humorvoll.“ (Noah Raab)

Das Stück Feierlicher koreanischer Tanz des koreanischen Dirigenten Sado Kim basiert auf einer traditionellen koreanischen Festmusik, die er in ein zeitgenössisches Gewand mit modernen Instrumenten gekleidet hat. She’s laughing ist dagegen eine Eigenkomposition von Sado Kim.

Das Stück 검은 풀 (Schwarzes Gras) von Rainer Feldmann (*1957) entstand in den ersten Monaten dieses Jahres auf Anfrage der Leiterin des Jusinn Orchesters Yeosu (Südkorea) Eun Joo Lee. Der Komponist schreibt zu seinem Stück:

„Es soll mit musikalischen Mitteln an die Ereignisse im Oktober 1948 in und um Yeosu erinnern, bei denen zahlreiche Oppositionelle, aber auch unbeteiligte Zivilisten ermordet wurden. Die Stadt wurde insbesondere von Regierungstruppen niedergebrannt, der Hafen wurde zerstört und viele Menschen verloren ihre Angehörigen.

Das Orchester repräsentiert Stimmen, die vehement verstummten, und die scheinbar chaotischen, übereinander liegenden Strukturen der Streicher und Bläser rufen uns in ihrem Aufbau mahnend zur Erinnerung. Die solistisch agierende Gitarre betrachtet und kommentiert zutiefst betroffen. Im Stück findet sich das nach Moll versetzte Zitat des 1949 entstandenen Liedes 여수 야화 (Eine Yeosu Geschichte), das die Ereignisse ein Jahr zuvor besingt.“ (Rainer Feldmann)

Die Uraufführung des Werkes fand erst vor wenigen Tagen – am 9. Oktober 2022 – im Yeolmaru Konzerthaus Yeosu mit dem Jusinn Orchester unter der Leitung des Dirigenten Sado Kim sowie dem Solisten Rainer Feldmann statt.

Am Ende und als Höhepunkt des Programms die Uraufführung von Jobst Liebrechts (*1965) Sinfonie Nr. 5 – „Wien“ auf Gedichte von Ernst Jandl. Die Sinfonie ist für ihn ein Bekenntniswerk. Er schreibt:

„Nachdenken über Nummer 5
Die Zahl 5 versetzt in Unruhe. ‚Take five‘ als Jazz-Urerlebnis eines Rhythmus, der über die Regelhaftigkeit hinausgeht. 3 und 2 oder 2 und 3 – bei fast jeder Erarbeitung einer Orchesterstelle im Fünfertakt stellt sich diese Frage. Ihn zu dirigieren war mir anfangs nur unter Schwierigkeiten möglich, erst später gewöhnte ich mich daran.

Bei den Römern andererseits war die V eine ordnende Mitte im Dezimalsystem auf dem Weg zur Zehn, dem X. Sie bezog sowohl die Vier (IV) als auch die Sechs, Sieben und Acht (VI, VII, VIII) auf sich. Und vergessen wir nicht die fünf Finger an einer Hand, mit denen man alles abzählt.

Gemeiniglich stehen Komponist:innen bei ihrer 5. Sinfonie in der Mitte ihres Lebens, sowohl künstlerisch als auch real. Der ‚Fünften‘ wohnt die Idee einer Summe inne, eines resümierenden Zwischenhalts auf dem Weg ins Alter. Alles steht unter Beethovens gewaltigem Schlagschatten. Heroismus und Pomp wurden im 19. und 20. Jahrhundert in Folge bis zur Hohlheit und Fratzenhaftigkeit gesteigert.

Was kann ich bieten? Die meisten Komponist:innen komponieren ja nicht einmal mehr Sinfonien. Sie haben sich längst verabschiedet von der Idee einer zusammenhängenden großen Erzählform. Sie weichen aus in Orchesterstücke mit fantasievollen Namen, in Klangerforschungen mit ausgedehnten Strukturen, die der Länge nach es mit Sinfonien aufnehmen können. Oder sie bleiben gleich bei Miniaturen.

Auch bei mir stellt sich in der Mitte des Lebens das Gefühl von Verlust und Fragmentarisierung ein. Immer mehr lyrisches Einknicken vor der Welt in abgestecktem Rahmen. Auch immer mehr Ratlosigkeit angesichts des Zustands der Welt.

Wie wäre es, wenn ich dazu einfach stehe? Habe ich nicht György Kurtágs quasi una fantasia mit seinen vier kurzen Sätzen als wegweisend empfunden, als Großform im Kleinen? Oder in letzter Zeit die Begegnung mit der Musik von Brian Wilson mit ihrem skurrilen, momenthaften Lyrizismus, bei dem gleichwohl aus der Abfolge von Songs auf einem gestalteten Album ein sinfonischer Erzählfluss sich einstellen kann? Meine Sinfonie, die acht Sätze hat, ist ebenso eine Aneinanderreihung von Songs, Intermezzi – Stationen auf einem Weg ins Ungewisse ohne Zwischenhalt.

Ist es denn richtig, dass man wie Ligeti, Lachenmann, Stockhausen, Boulez, Kurtág nur weil man von Kindheit auf in Diktaturen mit Sinfonien bedonnert wurde, einfach sich weigert, überhaupt noch welche zu schreiben? Sollen wir denn darauf verzichten, uns persönlich zu erklären und uns gleichzeitig damit an eine große Menge zu wenden? Sollen wir darauf verzichten, dass das Orchester als Ansammlung von Menschen und Individuen sich mit der Darstellung von Gedanken, mit reflektiertem Erzählen überhaupt noch beschäftigt? Nein. Genauso wenig, wie wir auf Hochzeiten, auf Beerdigungen, auf Parlamente, auf Diskussionen verzichten sollen.

Aber natürlich äußern wir uns anders als vor zweihundert Jahren. Jedenfalls in vielen Punkten, wir brauchen dafür gar nicht auf C-Dur verzichten. Wir sprechen anders im Tonfall. Seit meiner Jugend liebe ich die Gedichte von Ernst Jandl. Sie sind lapidar, sie sind witzig, sie haben trotzdem Furor und Feuer. Und natürlich haben sie auch diesen wunderbaren österreichischen Sprachduktus. Und deshalb soll – natürlich – meine Sinfonie Nr. 5 auch in Wien spielen.“
(Jobst Liebrecht)