Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Sonntag 6.11., 15.00 Uhr – Videodokumentation

Double View

Ensemble Compas

© Ying Wang
© Ying Wang

Programm

  • Stefan Streich
    Verstimme Dein Instrument deutlich(2022)
    für 5 - 8 Bläser und Streicher mit Harfe oder Klavier
  • Liza Lim
    Bioluminescence(2019)
    für Flöte solo
  • Jobst Liebrecht
    6 Duos für Violine und Violoncello(2012)
    für Violine und Violoncello
  • Xilin Wang
    Klarinettenquartett op. 41 (2002)
    für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier
  • Joan Tower
    Snow Dreams(1983)
    für Flöte und Gitarre
  • Ying Wang
    JanusUA(2022)
    für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Gitarre und KlavierAuftragswerk der Klangwerkstatt Berlin
  • Interview
    Xilin Wang und Ying Wang im Gespräch mit Leonie Reineke

Ensemble Compas

Malin Sieberns – Flöte | Vanessa Klöpping – Klarinette | Josefine Andronic – Violine | Liron Yariv – Violoncello | Kanahi Yamashita – Gitarre | Zhifeng Hu – Klavier
Leitung: Jobst Liebrecht


Die altrömischen Darstellungen des Schutzgottes Janus zeigen immer einen Kopf mit zwei Gesichtern, die in entgegengesetzte Richtungen blicken. Er symbolisiert Anfang und Ende, Zukunft und Vergangenheit, Krieg und Frieden. Janus ist der Gott der unverschlossenen Türen und Tore und ihrer Durchlässigkeit. Es geht um Dualität und Zwiespältigkeit schlechthin.

Janus heißt das neue Stück, das Ying Wang im Auftrag der Klangwerkstatt Berlin für das Ensemble Compas komponiert hat. Das Programm stellt dieser Komposition der in Berlin lebenden Komponistin ein Stück ihres Vaters, dem chinesischen Komponisten Xilin Wang, gegenüber. Es geht also auch um die doppelte Sicht von zwei Generationen auf die Musik. Doppelbödiges, Irritierendes bestimmt das gesamte Konzertprogramm des Ensembles.

Am Anfang des Konzertes steht ein Stück, das – wie ein verborgener roter Faden – an einigen Stellen im Programm der diesjährigen Klangwerkstatt Berlin auftaucht und auf eine Ereignis Bezug nimmt, das wie kein anderes das Jahr 2022 geprägt hat. Stefan Streich (*1961) schreibt über sein Werk Verstimme Dein Instrument deutlich (2022):

Es geht nicht darum, politische Filme, sondern politisch Filme zu machen. (Jean-Luc Godard, 1930 – 2022) Am 24. Februar 2022 hat Putin sein Militär die Ukraine überfallen lassen. Verstimme Dein Instrument deutlich entstand als Reaktion darauf, wie aus einem Reflex am 25. Februar und am 1. März 2022.

Diese Musik ist allen Menschen gewidmet, die sich diesem Verbrechen entgegenstellen. Es soll im Gedenken an die Opfer erklingen. Und diese Musik handelt von Gemeinschaft. Sie will eine Art Gegenraum sein zur automatisierten Folge von Hierarchie, Macht und Missbrauch.

Wie jede Musik kann auch dieses Stück die Gewalt nicht stoppen. Meine Hoffnung ist aber, daß es Trost und Mut spenden möge.“ (Stefan Streich)

Bioluminescence (2019) für Flöte Solo von Liza Lim (*1966) erforscht akustische Möglichkeiten des Flackerns, Leuchtens und Schimmerns. Durch die vielen explorativen Spieltechniken auf der Flöte entsteht eine sehr eigene, farbige Klangwelt. Liza Lim bringt in Texten über ihre Musik verschiedene Beispiele für Biolumineszenz ¬– die Fähigkeit von Lebewesen also, selbst oder mit Hilfe von Symbionten Licht zu erzeugen – zum Beispiel einen hawaiianischen Tintenfisch, der sich durch leuchtende Bakterien dem Mondlicht angleicht und dadurch tarnt. Sie stellt dem Stück ein Zitat von Charles Darwin voran, der einen leuchtenden, brennenden Ozean beschreibt.

Bei den 6 Duos für Violine und Violoncello von Jobst Liebrecht (*1965) handelt es sich um versteckte „Lieder ohne Worte“. Sie sind angeregt durch sechs Gedichte von der deutsch-jüdischen Lyrikerin Hilde Domin (1909 – 2006). Jobst Liebrecht schreibt zu diesen Duos, er habe versucht, „die strenge Form und Abgeschlossenheit, die die Duobesetzung mit ihrer doppelten Perspektive, ihrem ‚double view‘ impliziert, mit einem poetischen Ausloten von Stimmungen zu verbinden. Dieses ist ganz wörtlich zu nehmen, da in fast jedem der sechs kleinen Sätze eine Grund-Tonalität durch Spieltechniken und Vierteltöne an ihre Grenzen gespannt wird.“ (Jobst Liebrecht)

Wang Xilin (*1936) zählt zu den bedeutendsten Komponisten Chinas. Aufgrund des frühen Todes seines Vaters und der Armut seiner Familie trat er einer Künstlergruppe innerhalb der Volksbefreiungsarmee bei. 1955 wurde er an der Central Military Music Conducting School in Peking aufgenommen. Ab 1957 studierte Wang Komposition und Dirigieren am Shanghai Conservatory of Music. Für seinen Studienabschluss komponierte er 1962 die Symphony No. 1. Anschließend wurde er Composer in Residence beim Beijing Central Radio Symphony Orchestra. Seine symphonische Suite Yunnan Tone Poem gewann 1963 den höchsten chinesischen Staatspreis.

Im selben Jahr, kurz vor der chinesischen Kulturrevolution, hielt Wang einen Vortrag, der die Kulturpolitik der Regierung kritisierte. Dies führte zu seiner 14-jährigen Verbannung in die Provinz Shanxi. Bis 1971 war er Zwangsarbeiter in der Stadt Datong, wo er unter Verfolgung, Folter und Haftstrafen litt. In den darauffolgenden Jahren befand er sich im Exil und wurde zum Komponisten des Southeast Shanxi Song and Dance Ensemble ernannt.

Nach Ende der Kulturrevolution 1978 kehrte Wang nach Peking zurück. Dort lernte er zum ersten Mal die Musik der europäischen Avantgarde kennen, unter anderem Schönberg, Bartók, Strawinsky und Penderecki. Diese Begegnung schlug sich unmittelbar in seiner kompositorischen Technik nieder, indem er begann, Sequencing, Minimalismus, Toncluster, ebenso wie folkloristische Elemente in seine symphonischen Werke einzubeziehen. Inzwischen lebt der Komponist seit 2019 in Berlin.

Das Klarinettenquartett op. 41 entstand 2002 für den Kölner Klarinettisten Oliver Schwarz und ist das erste Werk, das Wang Xilin im Auftrage eines westlichen Ensembles schrieb. Seit seiner Uraufführung in Köln wurde das Quartett vielfach international aufgeführt, u. a. in San Francisco (2005), Macao (2008), Shanghai (2009) und Berlin (2018).

Das Werk kennzeichnet in Wang Xilins Œuvre einen Neubeginn nach einer Zeit der künstlerischen Isolierung, Einsamkeit und Verzweiflung. Es ist durch ein Spannungsverhältnis östlicher und westlicher Musiktraditionen gekennzeichnet. Inspirationsquellen waren einerseits Werke insbesondere Olivier Messiaens und Henryk Mikołaj Góreckis, die der Komponist in der Entstehungszeit erstmalig kennenlernte, andererseits chinesische Musiktraditionen:

„Ich denke immer, dass die chinesische regionale Oper ein einzigartiges kulturelles Element ist, das man in anderen Kulturen nicht findet. Ich habe entlang des Gelben Flusses im Norden Chinas gelebt, wo die wichtigsten regionalen Opern Qinqiang, Pu-Oper und Shangdang Bangzi aus der Provinz Shanxi sind. Die Handlungen dieser Opern sind in der Regel traurige Geschichten, in denen böse Menschen den guten Menschen Schaden zufügen (…). Die Figuren singen in einer traurigen Stimmung, um ihre Tragödien zu erzählen, was mich zutiefst anspricht.“ (Wang Xilin) Wie in vielen anderen Werken hat Wang Xilin auch in seinem Klarinettenquartett musikalische Elemente aus chinesischen Regionalopern übernommen und sie in einer höchst originären Art und Weise weiterentwickelt.

Die US-amerikanische Komponistin Joan Tower (*1938), erste weibliche Gewinnerin des Grawemeyer-Awards für Komposition und in ihrem Heimatkontinent eine lebende Legende der Klassikszene, ist in Europa noch immer weitgehend unbekannt.

Ihr Stück Snow Dreams (1983) für Flöte und Gitarre lässt es offen, ob man viele verschiedene Formen von Schnee darin erkennen möchte. Beide Instrumente sind in diesem Stück frei und solistisch zu hören, im Kontrast zu treibenden, rhythmischen Passagen, die eine besondere klangliche Mischung der Instrumente befördern. Sie schreibt:

„Es gibt viele verschiedene Bilder von Schnee, seinen Formen und Bewegungen: leichte Schneeflocken, Schneewirbel, runde Verwehungen, lange weiße Schneeflächen, leichte und starke Schneefälle usw. Viele dieser Bilder können in dem Stück vorkommen, wenn sie überhaupt vorkommen müssen. Der Hörer wird diese Auswahl treffen.“ (Joan Tower)

Ying Wang, Tochter Xilin Wangs, wurde 1976 in Shanghai geboren. Nach dem Studium der Komposition am Konservatorium von Shanghai führten Aufbaustudien sie 2003 nach Deutschland und dann nach Frankreich ans Ircam Paris. Ihre Haltung als Komponistin beschreibt sie selbst mit folgenden Worten:

„Ich lebe und gestalte meine Identität als zeitgenössischer Komponist aus China mit einem wachen und kritischen Blick auf die Verflechtungen von Politik, Kultur, Gesellschaft und Technologie und deren Folgen. Ich suche nach einer kontrastreichen und vielgestaltigen Kombination meiner drei wichtigsten Mittel: die traditionellen Instrumente der europäischen Musik und ihre erweiterten Techniken, die kritische Auseinandersetzung mit meinem chinesischen Erbe und die aktuellen Möglichkeiten der Elektronik. In meiner Musik verarbeite ich die Welt von heute, ihre Krisen und Tragödien, aber auch ihre Schönheit und Vielfalt – in meiner Musik gibt es sowohl schreiende Kritik als auch beglückende Bewunderung für diese Welt.“ (Ying Wang)

In ihrem neuem Ensemblestück Janus, Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin, bezieht sie sich auf den antiken Mythos:

„Der römische Gott Janus hat zwei Gesichter, je eines für das andere Ende des einen. Er ist Gott des Beginns und des Endes, der Ein- und Ausgänge, der Zukunft und der Vergangenheit – und vielleicht noch wichtiger, er ist auch Gott des Dazwischen – also des Übergangs. Türen und Durchgänge gehorchen ihm. Er ist noch heute Teil von Alltagskultur. Die antike Darstellung des Doppelkopfes taugt ausgezeichnet zum Logo unzähliger Firmen, Institutionen oder fiktiver Verbrechersyndikate, die sich dessen Ambivalenz als Umsichtigkeit umhängen. Wer sich mit Dialektik schmückt, glaubt immer recht zu haben.

Auch Janus selbst ist sein Bescheidwissen schon lang zu Kopf gestiegen und zur Besserwisserei geworden. Arrogant stellt er sich im Namen seiner Klugheit, Regeln und ‚Moral‘ über andere. Jeder Ort und jede Zeit hat ihren Janus. Die Musik von Janus zeigt seine wahren Gesichter und stellt sich ihm entgegen.

Nun ist die Musik eine Kunst des Übergangs; jede Melodie, jede sich bewegende Textur entsteht überhaupt erst im Sich-entwickeln. Wer über Beginn, Ende und die Übergänge herrscht, also kontrolliert, wie alles sich entwickelt, wäre wohl auch als Gott der Musik gut zu gebrauchen. Genau hier setzt die Musik von Janus an: Sie befreit sich von Janus‘ Regelwerk. Sie bricht die Übergänge, springt von falschen Beginnen zu falschen Enden. Sie raubt Janus die Kontrolle über das Werden der Dinge. Er muss sich unberechenbaren Sprüngen „ergeben“ – immer und immer wieder. Was uns eine spielerische, unmittelbare Musik ist, ist für den Besserwisser Janus, der alle Prozesse beherrschen will, eine Tortur. (Andreas Karl über Janus von Ying Wang)