Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Sonntag 19.11., 15.00 Uhr – Videodokumentation

Echoes and Paintings

Ensemble Compas

Konzertbild vom Ensemble Compas bei der Klangwerkstatt Berlin.
© Jakob Klaffs

Programm

  • Magret Wolf
    The Card Players(2018)
    für Klarinette, Violine, Cello und Klavier
  • Saemi Jeong
    LagerfeuerUA(2023)
    für Flöte, Klarinette, Gitarre und Elektronik
    Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin
  • Tristan Murail
    La barque mystique(1993)
    für Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier
  • Sébastien Vaillancourt
    HistoiresUA(2023)
    für Flöte, Gitarre, Keyboard und Elektronik
    Auftragswerk der Klangwerkstatt Berlin
  • Interview
    Saemi Jeong, Malin Sieberns und Jobst Liebrecht im Gespräch mit Leonie Reineke

Ensemble Compas

Malin Sieberns – Flöte | Vanessa Klöpping – Klarinette | Josefine Andronic – Violine | Liron Yariv – Violoncello | Jesse Flowers – Gitarre | Jonas Harksen – Klavier
Leitung: Jobst Liebrecht
Moderation und Gespräche: Leonie Reineke


Das Ensemble Compas hat seinen Ursprung im Landesjugendensemble Neue Musik Berlin. Ehemalige Musiker:innen von dort fanden noch während ihres Studiums in einem Ensemble zusammen, das sich um die Pflege selten gespielter Literatur der weiteren und näheren Vergangenheit kümmert. Das Programm präsentiert zwei stilistisch kontrastierende Stücke, die beide von berühmten Bildern inspiriert sind: La barque mystique (1993) des französischen Spektralisten Tristan Murail und das kräftig-rhythmische The Card Players (2018) von Magret Wolf. Diesen stehen zwei Uraufführungen von Komponist:innen der ganz jungen Generation zur Seite. Beide erhielten ihre Ausbildung unter anderem in Berlin: Saemi Jeong und Sébastien Vaillancourt.

Magret Wolf: The Card Players (2018)
Die „Kartenspieler“ sind ein wiederkehrendes Motiv in der Kunst. In diesem Spiel kommen einerseits Ernsthaftigkeit und andererseits Freude und Lachen zum Ausdruck. Die Spieler stellen sich dem Schicksal und unterwerfen sich dem Zufall. Der betrügerische Spieler gehört ebenso zum Bild des Kartenspiels wie die unschuldige Spannung, die sich im Kinderlachen verflüchtigt. Auch Glück und wirtschaftlicher Zusammenbruch sind Teil vieler Darstellungen, oder Soldaten oder Söldner als Sinnbild für ein Spiel um Leben und Tod, z. B. in dem sehr martialischen Bild von Fernand Léger La partie de cartes von 1917. Vier Kartenspieler spielen wie in einem Quartett zusammen, gegeneinander und nebeneinander, wobei jeder von ihnen seine eigenen Träume hat, hofft, zu gewinnen, die anderen Spieler zu täuschen und den Zufall zu überwinden – als ob das möglich wäre. Musikalisch gliedert sich das Werk in zwei Teile: horizontale Tonleitern, die gewissermaßen zusammen, gegeneinander und nebeneinander gespielt werden. Daher die Analogie zwischen dem Quartett und den Kartenspielern. Chromatische Tonleitern, Tonleitern mit gleichen Intervallen und Änderung der Richtungen der Tonleitern. Im zweiten Teil sind diese Tonleitern vertikal als Klänge angeordnet, die sich über alle Oktaven des Klaviers erstrecken. Während die rhythmische Struktur der horizontalen Tonleitern aus betonten und unbetonten Tönen besteht, die Unruhe zwischen Hoffnung, Enttäuschung anzeigen, sind die Klänge durch Pausen getrennt, Lücken im Sinn von „etwas“ und „nichts“. Aus diesem Arrangement entstehen Spannungen und Entspannungen, ein Spiel, das an den Rand einer Katastrophe führt, wo alles von vorne beginnt und immer so weiter geht.
Magret Wolf

Magret Wolf wuchs in München auf. Sie studierte Musiktheorie bei Richard Langely in Norfolk/Virginia (1974–1980) und Komposition bei Peter Kiesewetter in München (1980/81) und besuchte die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik (1982 und 1984). Sie studierte an der Universität Wien Judaistik und Vergleichende Musikwissenschaft und promovierte in Musik an der Bar-Ilan-Universität, Ramat Gan/Israel mit der Komposition Cheleq und einem Artikel über Peter Kiesewetters Zeitstrukturen. 2014 wurde ihr der renommierte israelische „Premierministerpreis für Komponisten“ verliehen. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Ihre Oper Kirisk (nach einer Erzählung von Tshingis Aitmatow) und das Ballett Kain weHewel wurden im Pfalz-Theater Kaiserslautern uraufgeführt. Das Mainfranken Theater, Würzburg in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule Würzburg brachten die Oper Refidim Junction – eine szenische-dokumentarische Aktion zur Uraufführung. Die Berliner Aufführung mit den Berliner Symphonikern wurde 2015 zum Israel Festival in Jerusalem eingeladen. Magret Wolf schreibt derzeit Musik und Libretto für ein dokumentarisches Musikstück zur aktuellen Welle des Antisemitismus.

Saemi Jeong: Lagerfeuer (2023) UA
In diesem Stück flackert das Bild des Feuers, das durch die verschiedenen Artikulationen der Interpret:innen erzeugt wird, auf und verblasst wieder, begleitet von allerlei klanglichen Ideen – so wie der Dichter Baek Seok (* 1. Juli 1912 in Chŏngju, P'yŏngan-pukto; † 7. Januar 1996) in seinem Gedicht 모닥불 (Lagerfeuer) beschreibt. Eine Gruppe von Menschen, die sich um ein Lagerfeuer versammelt und alle möglichen Gegenstände ins Feuer wirft, die im täglichen Leben nicht mehr gebraucht werden – oder die nicht mehr lebendig sind. So würde sich das Lagerfeuer des Titels hier nicht auf eine schöne friedliche Variante wie das beim Zelten beziehen. Eher wäre es eines, das man aus Notwendigkeit macht – für den kalten Körper, für die Seele, und das Zusammensein, oder für die Entfernung durch Verbrennen.
Saemi Jeong

새끼오리도 헌신짝도 소똥도 갓신창도 개니빠디도 너울쪽도 짚검불도 가락잎도 머리카락도 헌겊조각도 막대꼬치도 기와장도 닭의짗도 개터럭도 타는 모닥불
재당도 초시도 門長늙은이도 더부살이 아이도 새사위도 갓사둔도 나그네도 주인도 할아버지도 손자도 붓장사도 땜쟁이도 큰개도 강아지도 모두 모닥불을 쪼인다
모닥불은 어려서 우리 할아버지가 어미아비 없는 서러운 아이로 불상하니도 뭉둥발이가 된 슬픈 역사가 있다

Entenküken, alte Schuhe, Kuhmist, Hutbänder, Hundezähne, Bretter, trockenes Stroh, zerlumpte Blätter, Haare, Stofffetzen, Spieße, Ziegel, Hühnerfedern, Hundehaare, alles verbrennt auf dem Lagerfeuer.
Der Lehrer, der alte Mann, der Hausherr, die Magd, der neue Bräutigam, der Käufer, der Fremde, der Herr, der Großvater, der Enkel, der Handwerker, der Kesselflicker, der große Hund und der Welpe wärmen sich am Lagerfeuer.
Das Lagerfeuer hat eine traurige Geschichte, als mein Großvater ein armes elternloses Kind war und zum Krüppel wurde.
백석 (Baek Seok), 모닥불 (Lagerfeuer), Übersetzung: Saemi Jeong / Adaption: Norbert Frank

Tristan Murail: La barque mystique (1993)
La barque mystique ( Das rätselhafte Schiff ) des französischen Komponisten Tristan Murail von 1993 ist mittlerweile zu einem Klassiker der modernen Ensembleliteratur geworden. Es bezieht sich in seinem Titel, aber auch in seiner Faktur und Farbbehandlung auf eine gleichnamige Serie von Arbeiten des französischen Malers Odilon Redon (1840–1916). Murail selbst hat es eine „miniaturisierte Orchestration“ genannt. Trotz seiner nur fünf Instrumente entsteht durch größte Binnendifferenzierung sowohl in den mikrotonalen Verhältnissen, den Klangfarben der Instrumente als auch im Formverlauf fast ein Orchesterwerk. Der Komponist selbst hat wiederholt größte Präzision wie in einem Uhrwerk für die Aufführung angemahnt.
Jobst Liebrecht

Sébastien Vaillancourt: Histoires (2023) UA
Geschichten bewegen sich zuweilen zwischen Wahrheit und Lüge. Wir, erstaunte Zuhörer:innen, streben danach, die Wahrheit zu ergründen, oder vielleicht tun wir auch nur so, als ob wir alles verstehen. In der Tat, allerdings, schwanken wir zwischen Skepsis und bewusster Hingabe an die Vorstellungskraft. Wir sind die Richter:innen eines unsicheren Realitätsbegriffs, mitgerissen in einem Wirbel, in dem die Grenzen zwischen Echtheit und Fabulieren verblassen. Dieses Stück webt ein Geflecht aus authentischen Geschichten, ein Kaleidoskop aus meiner Vergangenheit und Gegenwart, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen und die Realität eine schwer fassbare Nuance annimmt. Die Instrumente, als lebendige Zeugen, erzählen diese Geschichten aus der rohesten Realität. Oder vielleicht ist es eine geschickt inszenierte Täuschung. Wer weiß. Die Suche nach der Wahrheit in diesem Labyrinth von Geschichten bleibt eine ständige Herausforderung. Die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion verblasst trotz unserer hartnäckigen Bemühungen. Letztendlich triumphiert die Erzählung, indem die Suche nach der Wahrheit zu einem ewigen Tanz zwischen Authentizität und Illusion wird.
Sébastien Vaillancourt