Einblicke in 30 Jahre Klangwerkstatt Berlin
Musikalische Partizipation

Neue Musik in Kreuzberg
Der Anfang

Videostill aus dem Mitschnitt der ersten Klangwerkstatt 1990 im Ballhaus Naunynstraße
Klangwerkstatt – Neue Musik in Kreuzberg 1990, Ballhaus Naunynstraße (Videostill)

Die Gründung der Klangwerkstatt Berlin, die im März 1990 unter dem Namen Klangwerkstatt – Neue Musik in Kreuzberg erstmals stattfand, ist eng verbunden mit der Gründung des Ensemble Zwischentöne durch Peter Ablinger zwei Jahre zuvor. Die ästhetische Prämissen des Ensembles, die sich durch die Zusammenarbeit von Lai*innen und Profis ergaben, wurden zur Keimzelle des neu entstehenden Festivals.

1988 – 1989 Vorspiel

Ein Aushang in der Musikschule

Werkstatt oder Festival? Oder besser: Werkstatt als Festival? Letzteres dürfte der eigentliche Impuls für die Gründung der Klangwerkstatt gewesen sein. Ein Raum für Experimente, Erkundungen, Erfahrungen und Erlebnisse. Ein Ort zum Hinhören, zum Lauschen und zum Nachdenken. Eine Umgebung zum Kennenlernen und zum Weitermachen.

00:03:09, Peter Ablinger über die Grundidee der Klangwerkstatt, im Gespräch mit Fabian Czolbe, November 2020
„Die Paletten des Möglichen ist ein offener Prozess.“
Peter Ablinger, Aushang für den Kurs „Neue Musik und experimentelle Spielpraktiken“ 1988

Allem voraus ging ein neugieriger, engagierter Aufruf des Komponisten und Musikschullehrers Peter Ablinger an seine Kolleg*innen. Sie alle sollten Schüler*innen und Interessierte auf einen Kurs für Neue Musik ab Frühjahr 1989 aufmerksam machen. Ein Aufruf für einen Musikschulkurs, nichts unübliches, oder doch?

Ablingers Aufruf war Ende der 1980er Jahre wohl ein Novum für eine Musikschule: ein Kurs für Neue Musik und experimentelle Spielpraktiken. Musikschulschüler*innen und Interessierte waren gleichermaßen eingeladen, klangliche und spieltechnische Möglichkeiten zu erforschen. Genres und persönliche Fähigkeiten auf dem Instrument oder in der Stimme spielten keine Rolle. Virtuos*innen sollten mit Lai*innen und Jazzer*innen mit Klassiker*innen zusammentreffen, um Konzepte und Stücke zu erproben, zu entwickeln und aufzuführen.

Abbildung Aushang 1988 von Peter Ablinger für den Kurs Neue Musik und experimentelle Spielpraktiken
Aushang für den Kurs Neue Musik und experimentelle Spielpraktiken,
Peter Ablinger, 1988

1990 Gründung

Ein produktives Missverständnis

Dieser Kurs und das Konzert des Kursensembles im Juni ’89 waren Initialzünder. Michael Schwinger, der damalige Musikschulleiter, wollte mehr: Mehr Neue Musik, mehr Schüler*innen mit Neuer Musik, mehr Musikschule mit Berliner Szene. Schwinger bot Ablinger ein Honorar für ein Konzert an. Ein Konzert, das die Möglichkeiten der Musikschule im Bereich Neuer Musik auslotete.

00:01:53, Peter Ablinger über Neue Musik an der Musikschule Kreuzberg, im Gespräch mit Fabian Czolbe, November 2020
„Es sollten also die Lehrer und vor allem auch die Schüler mitmachen, die in diese Richtung arbeiteten und interessiert waren. Das war der Auftrag, aus dem dann quasi die Klangwerkstatt entstand, obwohl von einem Festival noch gar nicht die Rede war. Ich habe den Auftrag nämlich ‚missverstanden‘, denn die 10.000 DM sollten eigentlich an mich für die Vorbereitung gehen, wogegen ich dachte, dass ich damit ein Konzert auf die Beine stellen sollte.“
Peter Ablinger, Über die Klangwerkstatt Berlin, im Gespräch mit Fabian Czolbe, Dezember 2018

Anstelle eines klassischen Musikschulkonzerts für Eltern und Schüler*innen dachte Ablinger größer. Er kombinierte Musikschulprojekte mit professionellen Akteur*innen und Ensembles der Neue Musikszene. Das Geld ermöglichte es, Musiker*innen der Berliner Szenen einzubinden, Workshops zu veranstalten und Kompositionsaufträge für die Musikschulensembles zu vergeben. Bereits ein halbes Jahr später, im März 1990, stand so ein zweitägiges Programm.

„Ich habe dann Michael Schwinger das ganze präsentiert, das ich da ausgeheckt und bereits verabredet hatte und er sagte: ‚Sie Idiot, das war doch ihr Geld!‘“
Peter Ablinger, Über die Klangwerkstatt Berlin, im Gespräch mit Fabian Czolbe, Dezember 2018

Vier Monate nach dem Fall der Berliner Mauer öffneten sich die Türen für die erste Klangwerkstatt in Berlin-Kreuzberg. Neugierige Ohren richteten sich auf die Suche nach den Zwischentönen, denn so sollte das Festival eigentlich heißen.

Programmfaltblatt der ersten Klangwerkstatt am 10. und 11. März 1990
3 Bilder, Programm-Faltblatt der ersten Klangwerkstatt 1990
02:35:06, Klangwerkstatt – Neue Musik in Kreuzberg 1990,
Mitschnitt Teil 1 vom 10. März 1990
01:38:11, Klangwerkstatt – Neue Musik in Kreuzberg 1990,
Mitschnitt Teil 2 vom 10./11. März 1990

Die Klangwerkstatt war ein richtiges Ereignis. Es war vor allem aber auch eine der ersten Kulturveranstaltungen, die den Kontakt in die Neue Musikszene des Ostens der Stadt suchte. Auf dem Programm standen bereits 1990 Werke von Georg Katzer und in den folgenden Jahrgängen von Friedrich Goldmann, Jakob Ullmann, Reiner Bredemeyer, Helmut Zapf u. v. a. m. Die Klangwerkstatt erhielt aufgrund ihrer Konzeption und ihrem verbindenden Engagement, so etwa im Falle der Neue Musikszene von West- und Ost-Berlin, natürlich auch ein wachsendes Medienecho.

Ausschnitt aus dem Programmheft der Klangwerkstatt 1990: DDR-Bürger zahlen einen reduzierten Eintritt
Klangwerkstatt – Neue Musik in Kreuzberg 1990,
Programmheft (Ausschnitt)
Rezension der Klangwerkstatt 1990 von Sybill Mahlke im Tagesspiegel
Rezension der Klangwerkstatt 1990 von Sybill Mahlke im Tagesspiegel, 14. März 1990

Es war Peter Ablinger mit der Klangwerkstatt gelungen, einen musikalischen Freiraum zu schaffen. Ein Raum mit Neuer und experimenteller Musik, in dem sich die Kleinsten der Musikschule mit interessierten Lai*innen und professionellen Musiker*innen oder Komponist*innen der Stadt trafen. Sie suchten gemeinsam nach den Zwischentönen in der Musik und im Musizieren. Ein Festival oder besser eine Werkstatt mit Konzerten, Gesprächen und Raum zum Probieren. Ein Ort musikalischer Vielfalt über die Genregrenzen hinweg. Nicht zuletzt mit einer Musikschule, die Offenheit zeigte und einforderte. Eine Musikschule oder besser die erste Musikschule, die ein Festival für Neue Musik ins Leben gerufen hat und damit auch in pädagogischen Kreisen viel Beachtung erhielt.

1991 – 1994 Ein neues Festival

Die Werkstatt mit Zwischentönen verstetigt sich

Für die ersten drei Jahrgänge hatte Peter Ablinger die Gesamtleitung der Klangwerkstatt inne. Ihm folgten Orm Finnendahl, Michael Beil und Stefan Streich. Alles Künstler, die bis heute versuchen, den Charakter des Experimentellen, des offenen Ohres, des Miteinander von Lai*innen und professionellen Musiker*innen sowie des partizipativen Stadtteilfestivals zu erhalten. Neben dem Ballhaus Naunynstraße waren es Aufführungsorte im Künstlerhaus (heute: Kunstquartier) Bethanien, die die Nähe zur Musikschule präsent machten. Dies zeigt sich bis heute in den Kinder- und Jugendkonzerten oder -workshops, die seit Beginn fester Bestandteil der Festivalprogramme sind.

Bereits die ersten Jahrgänge zeigen ein atemberaubendes Festival: Kinderkonzerte, Workshops, Ensembleabende, Konzerte mit elektronischer Musik u. v. m. Dabei standen Stücke aus den Bereichen der Neue Musik, Improvisation, Jazz, experimentelle Musik, elektronische Musik und Performance auf dem Programm.

Abbildung Vorankündigung der Klangwerkstatt 1991 in der taz
Vorankündigung der Klangwerkstatt 1991 in der taz

Die Klangwerkstatt repräsentierte umfassend den „Musikschauplatz Berlin“, wie Thomas Schröder in einer Rezension der Klangwerkstatt 1991 in der taz schrieb: Die Aktivitäten der Musikschule Kreuzberg standen neben Arbeiten Berliner Musikstudent*innen, von Komponist*innen aus Ost-Berlin und den fünf neuen Bundesländern sowie der zahlreichen in West-Berlin lebenden Komponist*innen.

Von der 1. Klangwerkstatt gab es lediglich eine Besprechung. Dies änderte sich jedoch rasch mit jedem weiteren Jahrgang. Bereits im zweiten und dritten Jahr gab es zahlreiche Rezensionen – von der Tagespresse wie der taz, dem tagesspiegel u. a. bis hin zur Fachpresse wie der neuen musikzeitung (nmz) oder Üben & Musizieren.

Abbildung Programmhefte und Rezensionen der Klangwerkstatt 1991 und 1992
13 Bilder, Programmhefte und Rezensionen
der Klangwerkstatt 1991 und 1992

Auf die Frage nach den Künstler*innen, die die ersten Jahre der Klangwerkstatt geprägt haben, verwies Peter Ablinger insbesondere auf Sven-Åke Johansson. Der Musiker, geboren 1943 in Schweden und seit Ende der 1960er Jahre in Berlin lebend, ist einer der stilprägenden Schlagzeuger der deutschen Free Jazz-Ära der 60er und 70er Jahre und verfolgte ab den 80er Jahren einen weitestgehend von Institutionen und Gruppierungen unabhängigen künstlerischen Weg als Musik-Performer, zunehmend in den Kreisen Bildender Kunst und Neuer Musik.

Mehr zu Sven-Åke Johansson auf seiner Website
www.sven-akejohansson.com
„Da ist natürlich Sven-Åke Johansson zu nennen. Da wir Stücke von ihm aufgeführt haben, ist er nicht mehr nur als der ‚verrückte‘ Performer, sondern auch als Komponist wahrgenommen worden. Er hat zum Beispiel viele Stücke für das Ensemble Zwischentöne und andere Gruppen komponiert. Und das sind eben genau diese Zwischentöne, die Bruchstellen, die Übergänge, die den Rahmen der Klangwerkstatt ausfüllen.“
Peter Ablinger, Über die Klangwerkstatt Berlin, im Gespräch mit Fabian Czolbe, Dezember 2018

Bereits im Programm der ersten Klangwerkstatt findet sich Sven-Åke Johansson mehrfach – sowohl als Performer bei der Uraufführung von Peter Ablingers Stück Ins Nasse (Aria al Fresco) als auch als Komponist. Zur Aufführung kam von Johansson die Italienische Verkehrsverständigung. Das Stück ahmt, wie Johansson schreibt, „die Hupsignale der italienischen Autofahrer einer sizilianischen Kleinstadt nach:

1. Vorsicht
2. Aus dem Weg
3. Hallo, wie geht’s

geordnet und gemessen nach musikalischen Bausteinen.“

Partiturseite von Sven-Åke Johanssons Italienische Verkehrsverständigung
Sven-Åke Johansson, Italienische Verkehrsverständigung (1983)
00:12:16, Sven-Åke Johansson, Italienische Verkehrsverständigung, Aufführung bei der Klangwerkstatt 1990

Peter Ablinger legte mit seinen Ideen von einem Festival Neuer und experimenteller Musik den Grundstein für drei Jahrzehnte Klangwerkstatt Berlin. In Berlin das am längsten, kontinuierlich stattfindende Festival zeitgenössischer Musik. Seit Beginn gehörte das Zusammenwirken von Laiinnen und Profimusikerinnen zu den Leitideen. Klangwerkstatt Berlin war immer schon mehr als eine Reihe von Konzerten, es war experimenteller Freiraum und Austausch. Klangwerkstatt Berlin suchte nach neuen Erfahrungen, Klängen und Formen der musikalisch künstlerischen Interaktion. Dies zeigt auch die Konzeption der 4. Klangwerkstatt 1993, auch wenn sie in dieser Form nicht realisiert wurde.

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Peter Ablinger, Projekt: Musik und Skulptur, 1992,
Konzeptpapier für die Klangwerkstatt 1993
00:01:43, Peter Ablinger über das Erbe der Klangwerkstatt in seinem Schaffen, im Gespräch mit Fabian Czolbe, November 2020

Die Klangwerkstatt Berlin war und ist ein Raum für das Ausprobieren, Experimentieren und die Suche nach den Zwischentönen eines scheinbar unendlichen, akustischen Horizonts. In drei Jahrzehnten hat das Festival mehr als 1600 Uraufführungen erprobt und auf die Bühne gebracht. Vor allem ist die Klangwerkstatt Berlin aber ein Ort für das Zusammenspiel von Lai*innen und professionellen Musiker*innen und nicht zuletzt den offenen Dialog über Hör- und Musiziererfahrungen.