Kunstquartier Bethanien, Studio 1

Samstag 12.11., 20.00 Uhr – Videodokumentation

Sikora / Nono

Les Métaboles & SWR Experimentalstudio

© Bartosz Baczyk, Fernando Pereira
© Bartosz Baczyk, Fernando Pereira

Programm

  • Elżbieta Sikora
    The Sixth CommandmentDEA(2021)
    for female voices, flute, cello and percussionAuftragswerk des Vokalensemble Les Métaboles und des Adam-Mickiewicz-Institut
  • Luigi Nono
    Quando stanno morendo. Diario polacco n. 2(1982)
    for female voices, flute, cello and live electronics
  • Interview
    Stanisław Suchora und Léo Warynski im Gespräch mit Leonie Reineke
  • Interview
    Joachim Haas im Gespräch mit Leonie Reineke

Vokalensemble Les Métaboles

Raphaële Kennedy, Anne-Claire Baconnais – Sopran | Amandine Trenc – Mezzosopran | Laura Muller – Alt

Instrumentalsolisten

Erik Drescher – Flöten | Bartosz Koziak – Violoncello | Dominik Dołęga – Percussion

SWR Experimentalstudio

Michael Acker, Joachim Haas, Markus Radke – Live-Elektronik & Klangregie
Gesamtleitung: Léo Warynski


Zwei Werke, die sich explizit gegen politische Gewalt und Unterdrückung positionieren, stehen sich in diesem Konzert gegenüber: Luigi Nonos Quando stanno morendo. Diario polacco n. 2 (1982) sowie das im März 2022 in Stettin uraufgeführte Werk von Elżbieta Sikora The Sixth Commandment (2021).

Die Gegenüberstellung dieser beiden Werke ist kein Zufall. Bereits in der Grundanlage ihres Werkes stellt Elżbieta Sikora (*1943), Grande Dame der polnischen Komposition und Pionierin der elektronischen Musik, einen deutlichen Bezug zu Nono her. Sie wählt quasi die gleiche Besetzung – Frauenstimmen, Flöte und Cello – und ersetzt nur die Elektronik Nonos durch das Schlagzeug.

Der Titel von Elżbieta Sikoras Stück The Sixth Commandment verweist auf das sechste Gebot der talmudischen Tradition: „Du sollst nicht töten.“ Das Textmaterial besteht aus den Worten von Zeug:innen der Verbrechen, die im NS-Konzentrationslager Majdanek bei Lublin begangen wurden. Dem wird die Poesie von Grzegorz Kwiatkowski, Nachfahre eines Holocaustüberlebenden, und Gedichte des uigurischen Dissidenten Ekhmetjan Osman, eines Angehörigen einer der am meisten verfolgten ethnischen Gruppen der Gegenwart, gegenübergestellt. Mithilfe dieser Texte – in ihren Originalsprachen Polnisch und Uigurisch, häufig aber auch übersetzt ins Englische, Französische und Deutsche – erzählt Sikora die Geschichte der Leiden der KZ-Häftlinge in Majdanek. Den unfassbaren Schrecken und Grauen stellt sie Momente der Hoffnung und des humanen Miteinanders gegenüber. Über weite Strecken steht die Narration des Textes, häufig im Sprechgesang vorgetragen, im Mittelpunkt. Choralartige Passagen und instrumentale Abschnitte geben musikalisch kommentierenden oder emphatischen Momenten Raum.

Die Erzählung über die Gewalt von damals will Elżbieta Sikora auch als Warnung vor neuen Unmenschlichkeiten verstanden wissen: „An anderen Orten werden immer noch und wieder Menschen verfolgt, sterben Frauen, Männer, Kinder vor unseren Augen. Und doch wissen wir: Du sollst nicht töten ist ein Gebot, das nicht vergessen werden darf.“ – so Elżbieta Sikora.

Quando stanno morendo. Diario polacco n. 2 von Luigi Nono (1924–1990) entstand unter dem Eindruck des Kriegsrechts in Polen, das das Militär unter Wojciech Jaruzelski 1981 verhängte, um die oppositionelle Gewerkschaftsbewegung Solidarność zu zerschlagen. Eine Verhaftungswelle überrollte das Land. Das Festival Warschauer Herbst, das das Stück beauftragt hatte, fand nicht statt. Gewidmet ist es den „polnischen Freunden und Genossen, die im Exil, im Untergrund, im Gefängnis, an der Arbeit ausharren – hoffend das nicht zu Hoffende, glaubend das nicht zu Glaubende“.

Nonos Arbeit an dem Stück – einem Meisterwerk der späten elektronischen Musik Nonos – fällt in die Zeit, in der er intensiv am SWR Experimentalstudio in Freiburg nach neuen Klängen forschte und seinem musikalischen Schaffen insgesamt eine neue Ausrichtung gab. In der technischen Ausstattung des Freiburger Experimentalstudios und bei dessen Team fand er Impulse, um eine neue Offenheit, Transparenz und Fragilität in seiner Musik zu erproben. Die technische Ausstattung des Studios eröffnete Nono weitreichende Möglichkeiten: Subtile Veränderungen, feinste mikrotonale Einfärbungen und Klänge an der Grenze des Hörbaren interessierten ihn.

Für die Vokalpartien in Quando stanno morendo. Diario polacco n. 2 hat Nono Lyrik von Autoren aus Polen, Ungarn und der Sowjetunion in italienischer Übersetzung herangezogen, die von dem venezianischen Philosophen Massimo Cacciari zu einer Textschicht für die Komposition zusammengestellt wurden. Nono und Cacciari schreiben hierzu, „Die Dichter, die wir hier zitieren, leben in apokalyptischen Ängsten. Ihre Zeit ist die Adventszeit. Ihre Sprache: Klage, Psalm, Prophezeiung. Der Moment der Katastrophe ist im apokalyptischen Symbol untrennbar mit dem der Erlösung verbunden. Diese Katastrophe scheint so gewaltig zu sein, dass wir uns manchmal wünschen, die Erlösung nie zu erreichen, nur um sie zu vermeiden. […] Der Tod kommt jetzt zu uns, aber er wird nie der Tod sein, solange diese Stimmen sprechen – solange Miłosz in seiner Sprache noch der polnischen Heimat einen Platz einräumt und in Ungarn die Sprache von Ady gesprochen wird und in Russland die von Pasternak.“

Im musikalischen Umgang mit den Texten zeigt sich Nono wesentlich abstrakter als Elżbieta Sikora in ihrem Werk. Über weite Teile ist die Textschicht primär klanglich und nicht auf klares Textverständnis hin angelegt.

Der erste Teil ist als verhaltener Klagegesang mit Live-Elektronik konzipiert. Die vier Singstimmen in hohen Lagen sind als eine Monodie mit unterschiedlichen Dichte- und Reibungsgraden in den Texturen gestaltet, mit subtil sich verändernden Nuancen und Bewegungen der Klänge im Raum. Die Textschicht mit Gedichtfragmenten von Czeslaw Miłos drückt Trauer und Verzweiflung angesichts politischer Unterdrückung aus.

Der Text von Velemir Chlebnikov im Mittelteil der Komposition ist eine zornige Abrechnung. Anders als in den Rahmenteilen ist die einleitende Frage „Mosca – chi sei?“ („Moskau, wer bist du?“) deutlich zu verstehen, bevor die Rezitation dann in mehreren Anläufen von der live-elektronisch verdichteten und ausgeweiteten Instrumentalschicht allmählich wieder bedrängt, umkreist und überflutet wird.

Im dritten Teil der Komposition sind die herangezogenen Textfragmente von Boris Pasternak von Bildern der Sehnsucht und des Todes geprägt und münden in einem von den Instrumenten abgelösten vierstimmigen A-cappella-Satz. Hier werden Verse von Velemir Chlebnikov gesungen, darunter als letzter der titelgebende Vers „wenn Menschen sterben, singen sie …“ – Quando stanno morendo …

Eckhard Weber fasste in einem Programmtext über Quando stanno morendo. Diario polacco n. 2 anlässlich eines Konzertes zum 50jährigen Jubiläum des SWR Experimentalstudios im November 2021 die Quintessenz des Werkes folgendermaßen in Worte: „Nono kreiert in seiner Komposition einen intimen Klangraum, der auf diese Weise umso eindringlicher wirkt. Die Musik richtet sich mit ihrer Konzentration auf subtile Veränderungen in klanglichen Texturen an die Aufmerksamkeit der Hörenden und damit an ihre Sensibilität und letztendlich an ihre Empathiefähigkeit. Das ist – neben dem Gehalt der herangezogenen Texte – das immens Politische an dieser Musik. Und heutzutage, in Zeiten populistischen Lärmens und sich überbietender digitaler Informationsfluten, aktueller denn je.“

Download PDF Abendprogramm mit Libretti-Texten


Vor dem Konzert ist im Studio 1 ab 19.30 Uhr die Installation Ursuppe von Sophia Schönborn, Justin Robinson und Simon Stimberg zu sehen und zu hören.