„Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann“, lässt Robert Musil den Protagonisten Ulrich in seinem 1930 erschienenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften sagen. Diese offene und zugleich provokante und hoffnungsvolle Art, die Zukunft zu betrachten, hat auch Luigi Nono fasziniert. Er hat diesen Satz als eine Art Credo seines eigenen Schaffens begriffen und selbst mehrfach zitiert.
Der 100. Geburtstag des großen italienischen Komponisten in diesem Jahr gibt Anlass, auf ihn und seine Musik zurückzuschauen. Nonos letzte Lebensdekade, die 1980er-Jahre, waren eine Zeit voller Umbrüche, geprägt von Verunsicherungen und Ungewissheiten. Mit dem sich abzeichnenden Scheitern des Staatssozialismus zerbrachen auch für ihn – er war Mitglied und Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens – linke Gewissheiten und Utopien.
Bemerkenswert ist, welchen Schluss Nono daraus zog. Nachdem er in seinen früheren Werken die großen Missstände seiner Zeit angeprangert hatte, wandte er sich nun einer stillen, fragmentarischen Musik zu. Nie war damit aber der Rückzug ins Verinnerlichte, Private gemeint. Vielmehr schuf er eine Musik, deren Subtilität zum wachen Zuhören auffordert und sich dem Unerwarteten öffnet.
Wie auch schon in seinen früheren Werken ging es ihm nie um vermeintlich kontextlos Neues. Immer griff er Gegebenes auf und aktivierte den Musil’schen „Möglichkeitssinn“ durch Umdeutung von „Realität“. Oft genug mit einfachsten kompositorischen Mitteln kreierte er einen Raum, in dem das Hören selbst zu einem zentralen Teil des Werkes wird.
In gleich zwei Konzerten erkundet die Klangwerkstatt Berlin Nonos Spätwerk: vom Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima, das am Beginn dieser Schaffensphase steht, bis hin zu seiner vorletzten vollendeten Komposition La lontananza nostalgica utopica futura, das die utopische Zukunft schon im Titel trägt.
Im Vorfeld des Festivals haben wir allen Beteiligten das Motto Nono 100 mit auf den Weg gegeben und sie gebeten, ihre Beziehung und Gedanken zu Nonos Musik in ihre Programmkonzeptionen einfließen zu lassen. Konkrete Vorgaben gab es nicht. Entsprechend vielgestaltig sind nun die Bezüge zum Werk Luigi Nonos – mal direkter, mal versteckter. Vor allem aber ging es uns darum, zu einer erweiterten Wahrnehmungsperspektive aktueller Musik anzuregen. Unsere Aufmerksamkeit als Hörende zu öffnen für das Feine, Fragile und Neue im Bewusstsein der Gegenwart, um uns sensibel zu machen für das Hoffnungsvolle und Mögliche der Zukunft.
Stefan Streich, Nina Ermlich